WADIM

(90 Min., D 2011)

WADIM

(90 Min., D 2011)

Wadim K. ist in Deutschland aufgewachsen, zur Schule gegangen, in die Ministrantengruppe und zum Musikunterricht. Er sprach Deutsch, hatte deutsche Freunde, fühlte sich als Deutscher. Doch einen deutschen Pass hat Wadim nie bekommen, weil er mit seiner Familie als Geflüchteter nach Hamburg kam.

1992. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion fühlen sich Wadims russischstämmige Eltern in Lettland nicht mehr sicher. Doch in Deutschland wird ihr Asylantrag abgelehnt. Es folgen 13 Jahre zwischen Duldungen, Sammelunterkünften und Arbeitsverboten. Die Eltern brechen unter dem Druck zusammen, erkranken schwer an Depressionen. Die Kinder sind mehr und mehr auf sich gestellt.

2005. Die Ausländerbehörde versucht die Familie abzuschieben. Doch der nächtliche Einsatz endet im Desaster: Die Mutter schneidet sich die Pulsadern auf, der Vater kommt in Haft. Wadim wird mit 18 Jahren allein nach Lettland abgeschoben – in ein Land, an das er sich kaum erinnern kann. Fünf Jahre kämpft er dort um eine neue Existenz. Bei seinem letzten, illegalen Besuch in Hamburg, im Januar 2010, wirft Wadim sich vor eine S-Bahn. Er ist 23 Jahre alt.

Der Dokumentarfilm WADIM setzt das Mosaik eines kurzen Lebens zusammen, das für Zehntausende anderer Menschen steht, die in Deutschland nur mit einer Duldung leben. Der Film zeigt eindringlich, wie Menschen kämpfen müssen, um in diesem Land einen Platz für sich zu finden. Dabei stößt er Gedanken an, die angesichts der Integrationsdebatte in Deutschland hochaktuell sind: Wo gehört ein Mensch hin? Was ist Heimat? Und darf man sie jemandem per Gesetz wegnehmen?

www.wadim-der-film.de

Buch/Regie: Carsten Rau und Hauke Wendler
Kamera: Boris Mahlau
Schnitt: Stephan Haase
Musik: Jakob Grunert
Redaktion: Barbara Denz (NDR)
Produktion: PIER 53 Filmproduktion

FESTIVALS

Internationales Dokumentarfilmfestival Hot Docs, Toronto, Kanada
Kasseler Dokumentarfilmfest
Dokumentarfilmwoche Hamburg
Dokumentarfilmfestival Ad hoc: Inconvenient Films, Vilnius, Litauen
Internationales Dokumentarfilmtreffen, Bogota, Kolumbien
Festival de Cine de Oriente, Rionegro, Kolumbien
Internationalen TV-Festival, Bar, Montenegro
Exground Filmfest, Wiesbaden
Globale Filmfestival, Halle

PRESSESTIMMEN

„Gefällig wirkt der Dokumentarfilm WADIM von Carsten Rau und Hauke Wendler nicht. Sondern rissig und spröde wie Lack, der von unserem Sozialstaat abblättert. (…) Die Autoren haben einen Indizienprozess gegen den Staat und seinen Behördenapparat geführt. Ihre Beweismittel sind Briefe, Protokolle, Erklärungen und die Aussagen von Anwälten, Freunden, Lehrern und Sozialarbeitern. (…) Am Ende sind unser Staat und sein Behördenapparat eindeutig der Unmenschlichkeit überführt.“
(Fritz Pleitgen in der FAZ)

„Carsten Rau und Hauke Wendler erzählen ihren Film mit großer Intensität und viel Gefühl für Stimmungen und Atmosphäre. (…) Die schonungslose Offenheit, mit der beispielsweise Wadims Eltern vor der Kamera sprechen, ist dabei mitunter fast erschreckend.“
(Kathrin Streckenbach, dpa)

„Die Kamera begleitet die Eltern dabei, wie sie an der Stelle, an der sich der Sohn vor den Zug geworfen hat, ein blaues Holzkreuz aufstellen. Es ist quälend, ihre Verzweiflung mit ansehen zu müssen, doch der Film bleibt nicht bei dieser Quälerei stehen. Denn die Geschichte des Freitods, die WADIM erzählt, ist auch eine Geschichte über das Zusammenwachsen Europas nach dem Ende des Ostblocks“
(Christoph Twickel, Spiegel Online)

„Der Film rückt in den Fokus, was sonst oft von der Bildfläche verschwindet. Er ist ein bewegendes Lehrstück über Asyl und Ausländerpolitik, Heimat und Isolation.“
(Karolin Jacquemain, Hamburger Abendblatt)

„Wendler und Rau verzichten auf einen Erzähler aus dem Off und lassen stattdessen Eltern, Freunde und Weggefährten sowie zahlreiche Familienvideos und -fotos sprechen. So kommen sie Wadim bemerkenswert nahe, während sie stets respektvolle Distanz wahren und nie nach Sensationen heischen.“
(Constantin Binder, Neue Osnabrücker Zeitung )

„Aufsehenerregende Dokumentation.“
(Michael Hanfeld, FAZ)

„Ein wirklich bemerkenswerter Dokumentarfilm.“
(Julia Westlake, NDR Kulturjournal)

„Subtil erschütternd: ein stummer Aufschrei.“
(TV Spielfilm)

„Diese Doku ist wie ein Faustschlag.“
(Sven Sakowitz, taz)

„Ein erschütternder und absolut nachdenklich stimmender Film von Carsten Rau und Hauke Wendler, die mit ABGETAUCHT zum 43. Grimme-Preis 2007 nominiert waren.“
(Grimme-Institut, Marl)

„Die Autoren halten sich mit wohlfeilen Betroffenheitsbekundungen oder plakativen Schuldzuweisungen gänzlich zurück, sie verzichten auf jeden Off-Kommentar. Stattdessen rekonstruierten sie bei aller erkennbaren Empathie nüchtern Wadims Weg in die tödliche Katastrophe. (…) Im Grunde war dies ein Beitrag, der zur Primetime-Sendezeit im Ersten hätte gezeigt werden müssen, ein Beitrag, der evident machte, wo die wahren Qualitäten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks liegen.“
(Reinhard Lüke, Funk Korrespondenz)

„Im Abspann läuft ein Kommentar des Bruders, der den Film unterstützt hat, aber nicht darin auftreten wollte. Er wendet sich mit seinen Worten an die Regisseure, trifft jedoch den Zuschauer im Innersten: ‚Sie werden mit Ihrem Film keine Gesetze ändern oder die radikale Ausländerpolitik in Hamburg. Sie werden für einen Moment Mitleid auslösen, bis die Menschen wieder an sich selber denken‘.“
(Ulrike Mau, Berliner Morgenpost)

INTERVIEW

Carsten Rau, Hauke Wendler

Wie ist es dazu gekommen, dass Sie diesen Film gemacht haben?

Hauke Wendler: Die Geschichte Wadims ist alles andere als ein Wunschfilm, den man sich aussucht. Ein solches Thema bricht über Autoren und Regisseure eher herein. Im Februar 2010, zwei Wochen nach Wadims Suizid, kon­taktierte uns der Anwalt der Familie, Markus Prottung, weil er einen älteren Film von uns kannte. Ich habe mich dann mit ihm getroffen und wir haben zwei Stunden geredet. Seitdem lässt die Tragödie Wadims uns nicht mehr los. Sie sprengt alles, was wir als Autoren von fast 50 Dokus und Reportagen realisiert haben.

Carsten Rau: Wir haben in den vergangenen Jahren schon mehrere Produktionen zum Thema Flucht und Migration realisiert, die auch zu Festivals eingeladen waren und mehr­fach ausgezeichnet wurden. Bei jedem dieser Filme haben wir Menschen in extremen Lebens­situationen begleitet. Doch keiner hat die Tragik, die das Leben Wadims schon so früh prägte.

Wie hast sich die Arbeit am Film gestaltet?

Hauke Wendler: Lange Zeit wussten wir überhaupt nicht, wie wir den Film finanzieren sollten. Wir haben viele Absagen von Redaktionen bekommen. Da hieß es dann: Ach, noch so ein Flüchtlingsfilm, das wollen die Leute nicht mehr sehen. Aber wir mussten trotzdem mit dem Dreh beginnen, weil sich gewisse Entwicklungen und Geschichten nun mal nicht vertagen lassen: Die Beerdigung, das Loch, in das Wadims Eltern danach gefallen sind, der Versuch, da wieder rauszufinden – das Alles mussten wir mit der Kamera begleiten. Also haben wir ohne Finanzierung mit dem Dreh begonnen. Erst nachdem der NDR und die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein eingestiegen sind, wussten wir: OK, das bekommen wir auch finanziell hin. Und dann ging die eigentliche Arbeit los.

Carsten Rau: Die Dreharbeiten und die Postproduktion des Films haben sich fast zwei Jahre hin­gezogen. Das war eine Arbeit, die vor allem der Familie Wadims und seinen Freunden sehr viel abverlang­t hat. Deshalb möchten wir uns an dieser Stelle nochmals bei ihnen allen bedanken: Für die Kraft, die es insbesondere die Eltern Viktoria und Sergej K. gekostet hat, über Monate mit uns zu drehen und sich immer wieder der eigenen Erinnerung und Verantwortung auszusetzen.

Hauke Wendler: Dieser Film macht natürlich nichts von dem ungeschehen, was passiert ist. Umso mehr hoffen wir, dass er nicht ohne Wirkung bleibt. Dass möglichst viele Menschen Notiz davon nehmen, wie es Wadim und seiner Familie in diesem Leben ergangen ist. Gerade weil ihre Geschichte halt für knapp 90.000 andere Geflüchtete steht, die mit einer Duldung in Deutschland leben.

Wie geht es Wadims Eltern heute?

Hauke Wendler: Viktoria, Wadims Mutter, ist am 08.01.2014 verstorben, knapp vier Jahre nach Wadims Tod, im Alter von nur 48 Jahren. Wenn ein Mensch stirbt, ist das immer schlimm. Aber wenn er nach so einem fürchterlichen Leben stirbt, ist der Gedanke daran nur noch grauenhaft. Andererseits hat sich Viktoria nach Wadims Suizid nur noch durch das Leben gequält: Jeder Tag Verzweiflung, Vorwürfe und Schuldgefühle. Am Ende war sie zu schwach, um gegen eine schwere Krankheit anzukämpfen. Mit Viktoria ist ein weiterer Mensch gestorben, dessen Tod in keiner öffentlichen Statistik zu Flucht und Migration auftauchen wird, weil die Folgen dieser inhumanen Asylpolitik in Deutschland verdrängt werden. Das muss sich dringend ändern.

Carsten Rau: Unsere Gedanken sind bei den Überlebenden: bei Viktorias Ehemann Sergej, der heute in einem Heim für psychisch kranke Menschen untergebracht ist, und bei ihrem jüngeren Sohn Georg.

CREDITS

Eine PIER 53 Filmproduktion

in Koproduktion mit dem
Norddeutschen Rundfunk

gefördert von der
Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein

 

Ein Film von
Carsten Rau und Hauke Wendler

Schnitt
Stephan Haase

Kamera
Boris Mahlau

Zusätzliche Kamera
André Wawro

Ton
Torsten Reimers

Dolmetscherinnen
Sandra Leikarte
Vija Skrule

Recherchen
Sandra Leikarte
Andrea Pittlik

Recherchen Archivmaterial
Ilze Feldmane
Silke König
Daniela Lubisch

Transkription
Gerlinde Frost

Übersetzerinnen
Martina Fischer
Constanze Stoll
Sarma Zemite

Bildtechnik
Oliver Stammel

Titelgestaltung
Ute Rau-Heins

Musik
Jakob Grunert

Sounddesign und Mischung
Thomas Knop

Produktionsassistentin
Andrea Pittlik

Produktionsleitung NDR:
Eva-Maria Wittke

Redaktion
Barbara Denz

Produzenten
Carsten Rau und Hauke Wendler